Im Shōdōka findet man das folgende Gedicht:

Ich betrete das tiefe Gebirge, wo ich meine Einsiedelei bewohne.
Unter einer großen Pinie, die Baumkrone steil geneigt
– in den unendlichen Abgrund tauchend.
Ich setze mich still und ohne Zögern in meine schlichte Bleibe.
Stiller Rückzug – Heitere Einfachheit.

Es ist ein Fehler zu denken, dass das Gebirge ein idealer Ort ist, um die Stille zu finden.

Kōdō Sawaki schreibt:

Es wäre eine gute Idee im Innersten des Gebirges zu leben, wenn es nicht von untätig umherstreifenden Dämonen heimgesucht würde.

Das Gebirge, von dem das Gedicht spricht, ist ein isolierter Ort, wo es keinen Lärm gibt, wo es keine Spuren menschlicher Existenz gibt. Ein Ort den der Staub der Welt niemals erreicht. An diesem Ort fällt der Schnee lautlos – das menschliche Wesen ist bewegungslos.

In das Gebirge gehen bedeutet in den Weg Buddhas einzutreten. Alle Klöster haben zwei Namen. Sie besitzen immer auch den Namen eines Bergs. Eiheiji zum Beispiel – „das Kloster des ewigen Friedens“ – heißt auch Daihonzan – „der Berg der großen Wurzel“. Kanshoji, „das Kloster des Lichts des Mitgefühls“ hat als zweiten Namen Butsunanzan: „Der Berg des Buddhas des Südens“.

Die Weisen habe schon immer die Berge gemocht, die Berge haben auch immer die Weisen gemocht. In das Gebirge zu gehen, das bedeutet die Welt der Gier, der Abneigung und vor allem der Ignoranz zu verlassen.

Ich betrete das tiefe Gebirge, wo ich meine Einsiedelei bewohne

Diese Einsiedelei ist Zazen – man spricht manchmal auch von unserer wahren Bleibe. Im Grunde genommen heißt das tiefe Gebirge betreten den Blick nach innen richten, egal was ist: Ihr setzt euch mit euch selbst auseinander – ohne euch Geschichten zu erzählen, ohne zu schummeln. Das gilt überall: es gilt auf der Toilette aber auch im Speisesaal und auch im Dojo – überall. Dieser isolierte Ort, ist der Ort, wo man keinen Kontakt zu anderen hat.

Kōdō Sawaki schreibt:

Wenn man jemand anderem gegenübertritt, dann betritt man eine Bühne, man spielt eine Rolle. Aber allem was sich unter dem Blick eines anderen abspielt fehlt die Authentizität.

An diesem Ort, an dieser kleinen Einsiedelei, sich selbst gegenüber, hat man keinen Grund mehr andere anzulügen, eine Person zu spielen, versuchen zu verführen, anderen zu gefallen.

Unter einer großen Pinie, die Baumkrone steil geneigt
– in den unendlichen Abgrund tauchend …

Die Menschen brauchen Höhe und Tiefe. In Zazen trippelst du nicht wie ein Mäuschen in alle Ecken, man irrt nicht wie ein Betrunkener umher. Man ist im Angesicht des Abgrunds, im Angesicht der Höhe, im Angesicht unserer wahren Dimension.

Meister Daishi schreibt:

Wo du auch bist, wenn du jenseits der Gedanken bist, ist es das Gebirge. Dieses Gebirge, das ist bei dir.

Das ist der Ort der erhabenen Einsamkeit, wo man sowohl andere als auch sich selbst nicht anlügt, wo man aufhört sich in seinen Gedanken zu irren, wo man aufhört herumzulabern, aufhört die Gedanken herumzuschütteln. Wo man nichts sucht, wo es eine unendliche Höhe und eine unergründliche Tiefe gibt.

Unter einer großen Pinie, die Baumkrone steil geneigt
– in den unendlichen Abgrund tauchend …

Dieses Zazen von dem Yoka Daishi spricht – es ist im Schatten einer großen Pinie. Die Pinie ist immer grün. Sie wächst an den unglaublichsten Orten. Das Leben ist überall – immer grün, immer neu. Wenn man Zazen praktiziert, ist man nicht auf dem Mond oder auf dem Mars. Man befindet sich in seinem Leben in der essentiellen Form – immer neu. Der einzige Punkt ist, dass man sich nicht immer Geschichten erzählt, dass man aufhört mit seinen Gedanken abzuschweifen. Nur allein mit sich selbst, im Angesicht der Höhe, im Angesicht der Tiefe. Im Angesicht der Wahrheit, die man nicht greifen kann. Im Angesicht der Wahrheit, die man nicht ergründen kann.

Taiun JP Faure, November 2022

 

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